06.09.2022

Im Krieg verletzt: Wie ein junges Paar es bis nach Deutschland schaffte

Ein 19-Jähriger wird in der Ukraine schwer verletzt. Für die Behandlung fliegt ein amerikanischer Pilot ihn und seine Freundin in die Region Ulm. Nun sucht das Paar dringend eine Wohnung.

 
Kurz vor der Explosion bietet ein Kamerad dem 19-jährigen Ihor Bystrevskyi eine Zigarette an. Sie hätten noch gelacht, sagt Bystrevskyi: Er sei Nichtraucher und habe seine eigenen Zigaretten-Rationen gesammelt, um sie gegen Süßigkeiten einzutauschen. Seit elf Tagen sei er zu diesem Zeitpunkt – es war Mitte März – an der Front im Norden der Ukraine gewesen: „Jeden Tag war Beschuss“, sagt der 19-Jährige. Er beschreibt, wie die Männer Gräben errichteten. Wie sie ausharrten, wenn die Bomben kamen. Wie sie in ihrem Unterstand lachten – und dann die Granate. Drei von ihnen starben, er selbst überlebte schwer verletzt.
Mehr als fünf Monate später sitzt Polina Kudina auf einer Bank am Blautopf in Blaubeuren. Hinter der jungen Ukrainerin plätschert das Wasser der Blau, ab und zu laufen Touristinnen und Touristen vorbei. Die 18-Jährige spricht ruhig und klar darüber, was sie und ihr Freund Ihor erlebt haben. Schon vor dem Krieg hat sie Deutschkurse besucht, nur selten muss sie am Smartphone ein Wort nachschlagen – es sind Wörter wie Wärmebildkamera.
 

Freiwillig bei der Armee gemeldet

Kudina erzählt, wie sie früher zusammen wandern waren. Wie sie E-Gitarre in einer Metal-Band spielten – junge Menschen aus der Ukraine, die deutsche Texte sangen. Sie spricht über ihren Vater, der jetzt auf ihren geliebten Kater, den fünf Jahre alten Varg, aufpasst. Und darüber, wie sie Angst bekommt, wenn im Luftraum über der Region Ulm wieder die Eurofighter unterwegs sind. Während der Belagerung ihrer Heimatstadt Tschernihiw flogen die Kampfflugzeuge nicht zur Übung, sie warfen Bomben ab. Am Blautopf fallen nur die Blätter von den Bäumen.
Als Russland die Ukraine angriff, hätten sie sich beide bei der Armee gemeldet, sagt Kudina. Sie seien abgewiesen worden, doch Ihor habe es immer wieder versucht, bis er angenommen wurde. „Wir konnten uns nur kurz verabschieden“, sagt die 18-Jährige. Sie selbst habe als Helferin in Tschernihiw Nahrungsmittel und Medikamente ausgeliefert. Mit dem Fahrrad sei sie durch die Stadt gefahren, auch dann, als die Bomben fielen.

 

„Ich habe keine Ahnung, wie wir das alles geschafft haben“

Nachdem ihr Freund an der Front verletzt worden war, amputierten die Ärzte sein linkes Bein über dem Knie. „Wir wollten nach Deutschland, weil es hier eine gute Behandlung gibt“, sagt die 18-Jährige bestimmt. Während sie am Blautopf sitzt und erzählt, wird er wieder einmal operiert – im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm. Seit zwei Monaten sind die beiden in Deutschland, Kudina hat inzwischen einen Job in einem Restaurant gefunden. So oft sie kann, besucht sie Bystrevskyi in der Klinik, denn: „Ich bin seine Unterstützergruppe.“
Wenn sie an die vergangenen Monate denkt, sagt die junge Frau: „Ich habe keine Ahnung, wie wir das alles geschafft haben.“ So viele Menschen hätten ihnen geholfen.
 
Ann-Sophie Winter ist einer dieser Menschen. Die 25-Jährige studiert in Heidelberg an der Pädagogischen Hochschule – Bystrevskyis Tante ist dort Dozentin. Aufgrund der bürokratischen Hürden sei es schwierig, ukrainische Soldaten nach Deutschland zu holen, sagt Winter. Also machten sie es unbürokratisch.
 
Bekannte fuhren die beiden mit dem Auto nach Polen, der amerikanische Pilot John Bone von der Organisation Ukraine Air Rescue flog sie am 8. Juli nach Laup­heim – in seinem privaten Leichtflugzeug. Insgesamt dauerte die Reise knapp 24 Stunden: „Wir waren so müde“, sagt Kudina. Noch am Abend wurde Bystrevskyi nach Ulm ins Bundeswehrkrankenhaus gebracht. Die Hilfsbereitschaft in der Klinik sei groß, sagt Ann-Sophie Winter: „Sie haben ihn aufgenommen, ihm ein Bett gegeben, sich um ihn gekümmert.“
 
Der 19-Jährige soll eine Prothese bekommen, in einigen Wochen kann er die Klinik verlassen. Doch bisher hat das Paar keine Wohnung gefunden. Auf einen Flyer habe sich zwar jemand gemeldet, sei aber wieder abgesprungen, sagt Winter, bei deren Eltern in Blaubeuren Polina Kudina zurzeit untergekommen ist. Doch das ist keine Dauerlösung: Das Haus ist nicht behindertengerecht.
Kudina sagt, eine Wohnung im Raum Ulm mit Aufzug oder wenigen Treppen wäre gut. Gerne in Blaubeuren, mit einer Küche, in der sie Borschtsch kochen und Eier braten können. Und gut angebunden an den öffentlichen Nahverkehr – die beiden haben keinen Auto-Führerschein.



Wohnung dringend gesucht

Polina Kudina (18) und Ihor Bystrevskyi (19) suchen eine Wohnung mit wenigen Treppen oder einem Aufzug in Ulm oder dem Ulmer Umland. Auch Gästezimmer kommen infrage. Wer eine passende Wohnung zu vermieten hat oder anderweitig bei der Wohnungssuche behilflich sein kann, kann sich an die Aktion 100 000 der SÜDWEST PRESSE wenden.
Die Aktion 100 000 ist telefonisch unter der Nummer (0731) 156 201 erreichbar – oder per E-Mail an aktion100000@swp.de. Weitere Infos unter: www.aktion100000.de.



Am Tag nach dem Treffen am Blautopf sitzt das Paar vor dem Haupteingang des Bundeswehrkrankenhauses in der Sonne. Vor den beiden steht ein hoher Gehwagen: Bystrevskyi nutzt ihn nicht nur zum Gehen, er stemmt sich auch daran in die Luft, trainiert die Arme. Auch früher sei er ständig in Bewegung gewesen, sagt Kudina: Leichtathletik, Kickboxen. Dazu kam sein großer Traum: die Armee.
Ihn hätten schon immer Panzer fasziniert, sagt Bystrevskyi: „Ich wollte Panzersoldat werden.“ Aber als der Krieg begonnen habe, sei keine Zeit für die komplizierte Ausbildung gewesen. Auch jetzt noch, nach der Granate, nach mehr als zwölf Operationen, sagt der 19-Jährige, er würde gerne zurück zur ukrainischen Armee gehen. Ihm ist klar, dass das nicht realistisch ist: „Mit zwei Beinen ist es an der Front schwer, mit einem ist es unmöglich.“
Seine Freundin hat ohnehin andere Prioritäten: Schon aufgrund der sehr guten medizinischen Versorgung sei es am besten, wenn sie in Deutschland bleiben, findet Kudina: „Ich möchte für uns zusammen eine Zukunft.“ Die 18-Jährige denkt darüber nach, ihr Abitur zu machen, zu studieren. Trotzdem will auch sie möglichst schnell in die Ukraine: „Urlaub machen“, sagt sie ernst. Große Teile ihrer Heimatstadt sind zerstört, doch Polina Kudina will unbedingt ihre Familie wiedersehen – und natürlich ihren Kater.

Ein Artikel von: Moritz Clauß